Von Hoffnung, Frust – und der Frage, ob Politik versteht, wie Essen heute wirklich funktioniert.

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Freitagabend, 19:48 Uhr.
Das Restaurant ist ausgebucht, die Weinkühler gefüllt, die Kühlhäuser voll. In der Küche zischeln Pfannen, Teller klappern, der Pass läuft heiß. Und dennoch steht Inhaber Marco Lenz im Büro und kalkuliert mit sorgenvoller Miene.
„Wenn die Umsatzsteuer auf 19 Prozent bleibt, verdiene ich heute faktisch an jedem zweiten Gast nichts“, sagt er – und schiebt seinen Taschenrechner zur Seite. „Und trotzdem kommen alle nur wegen uns überhaupt in diese Stadt.“
Lenz betreibt ein gut laufendes, modernes Restaurant in einer süddeutschen Mittelstadt. 120 Plätze, ausgebucht an den Wochenenden, solide Bewertung. Noch vor fünf Jahren wäre das ein Traumbetrieb gewesen. Heute kämpft er ums Überleben.

Was ihn – und tausende Kolleginnen und Kollegen – aktuell umtreibt, ist eine Zahl:
7 % Prozent.
So hoch war während der Corona-Pandemie der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Speisen in der Gastronomie. Er lief Ende 2023 aus, inzwischen gelten wieder 19 Prozent. Nun verspricht die Bundesregierung – unter massivem Druck der Branche – eine Rückkehr zur Ermäßigung.
Doch noch ist nichts entschieden. Bundesländer bremsen. Finanzminister rechnen. Koalitionspartner streiten. Die Uhr tickt – und in der Branche wächst das Gefühl, wieder einmal Spielball der Politik zu sein.


Die Steuerfrage ist kein Luxusproblem – sie ist eine Existenzfrage

Was für Außenstehende klingt wie eine Detaildebatte, ist für Gastronomen knallharte Realität.
Ein einfaches Rechenbeispiel:
Menüpreis: 30 Euro brutto
Bei 19 % MwSt. bleiben: 25,21 Euro netto
Bei 7 % MwSt.: 28,04 Euro netto
Differenz: fast 3 Euro pro Gast.
Bei 80 Gästen am Abend sind das über 200 Euro Unterschied. Hochgerechnet auf ein Jahr: mehr als 70.000 Euro – bei einem Betrieb mittlerer Größe.
Und diese 70.000 Euro sind exakt der Betrag, der heute über:

  • Einstellung oder Nicht-Einstellung von Personal,
  • Renovierungen oder Stillstand,
  • Qualität oder Kompromisse entscheidet.
    „Gastronomie lebt von Margen von zwei bis fünf Prozent“, erklärt Betriebsberater Thomas Weber. „Alles darüber ist Wunschdenken. Alles darunter ist Insolvenz.“

Preisexplosion trifft auf Preissensibilität

Die Situation verschärft sich durch den massiven Kostenanstieg der vergangenen Jahre:

  • Lebensmittelpreise: +20–30 %
  • Energie: +40–60 %
  • Personal: steigende Mindestlöhne und Zuschläge
  • Mieten: vielerorts zweistellige Steigerungsraten
    Gleichzeitig haben Gastronomen die Preiserhöhungen nur teilweise an Gäste weitergegeben. Die Angst: Der Besuch im Restaurant könnte endgültig zum seltenen Luxus werden.
    Das Ergebnis? Die kalkulatorischen Kosten steigen schneller als die Verkaufspreise – und drücken Margen bis zum Nullpunkt.
    Marco Lenz macht kein Geheimnis daraus:
    „Wir müssten heute eigentlich deutlich teurer sein – aber das akzeptiert der Markt nicht mehr. Die Leute vergleichen online, bestellen weniger Gänge, trinken nur noch ein Glas Wein statt einer Flasche.“
    „Die Gäste glauben, wir setzen uns die Preise einfach selbst“
    Viele Gäste verstehen bis heute nicht, weshalb Restaurantbesuche teurer geworden sind – oder warum die Preise nicht wieder sinken, nachdem Energiepreise langsam nachlassen.
    „In den Kommentaren liest man ständig: Die wollen halt abkassieren“, sagt Lenz bitter. „Aber von Abkassieren ist hier gar nichts.“
    Dabei wird oft übersehen:
  • Gastronomen zahlen volle MwSt. auf Getränke, egal ob 7 % kämen oder nicht.
  • Sie tragen sämtliche Preissteigerungen selbst vor.
  • Viele arbeiten heute mit Stundenlöhnen unter der eigenen unternehmerischen Vergütung.
    Kurz gesagt:
    Die Betriebe werden zu oft als Preistreiber wahrgenommen – dabei kämpfen sie selbst um Luft zum Atmen.
    7 % ODER STERBEN ?

Die Branche ist gespalten

So eindeutig, wie es von außen wirkt, ist die Diskussion innerhalb der Gastronomie nicht.
Während viele Wirte die Steuersenkung als letzte Rettung sehen, gibt es auch kritische Stimmen:
Die Reformer
„Eine Steuersenkung stopft nur Löcher, löst aber keine strukturellen Probleme“, sagt Systemgastronomin Sabine Richter.
Ihre Meinung:

  • Das Geschäftsmodell Gastronomie habe sich massiv verändert.
  • Wer heute erfolgreich sein wolle, müsse radikal effizienter arbeiten.
  • Digitalisierung, klare Konzepte, kleineres Menü – statt politischer Subvention.

Die Pragmatiker
Andere sagen: „Bevor wir über Transformation reden, müssen wir erst leben dürfen.“
Denn Transformation kostet Geld – und genau dieses fehlt.
Personal als größter Kostenblock – und größtes Risiko
Besonders dramatisch zeigt sich der wirtschaftliche Druck beim Thema Personal.
„Wir zahlen höhere Löhne denn je – verdienen aber weniger denn je“, erklärt Hotelier Sarah Behrens.
Gleichzeitig bleibt der Fachkräftemangel groß:
Servicekräfte wechseln in besser planbare Branchen, Köche verlassen den Beruf ganz.
Die Branche steckt in einem Paradox:

  • Höhere Löhne notwendig, um attraktiv zu bleiben
  • Preisgrenzen beim Gast verhindern Gegenfinanzierung

Die Mehrwertsteuer wird hier zum Hebel:
Mit der Ersparnis könnten Betriebe:

  • bessere Planstellen schaffen,
  • Ausbildungsvergütungen erhöhen,
  • Arbeitszeiten flexibler gestalten.

Bleibt sie aus, drohen weitere Einschnitte – bis hin zu verkürzten Öffnungszeiten oder Betriebsschließungen.
TOP – THEMA
CHEFHEADS-MAGAZIN
„7 % – und dann?“
Eine entscheidende Frage lautet: Würde die Branche bei 7 % wirklich günstiger werden?
Kritiker aus Politik und Verbraucherschutz zweifeln das an. Sie argumentieren:
„Die Betriebe würden die Einsparungen nicht an Gäste weitergeben.“
Die Antwort aus der Praxis:
Teilweise stimmt das – teilweise nicht.
Realistisch betrachtet würden 7 %:

  • Preissteigerungen stoppen,
  • einzelne Gerichte günstiger machen,
  • vor allem aber Insolvenzen verhindern.

Die Wahrheit: Viele Betriebe könnten bei 7 % gerade einmal ihre Verluste ausgleichen – nicht massenweise Preise senken.
Eine Insolvenzwelle im Schatten
Während Politik streitet, verschwinden Betriebe – leise und meist unbemerkt.
2025 meldeten hunderte Restaurants Insolvenz an oder gaben freiwillig auf.
Vor allem betroffen:

  • ländliche Regionen
  • inhabergeführte Traditionsbetriebe
  • Familienrestaurants

„Es ist kein lauter Knall – sondern ein stilles Sterben“, sagt Dehoga-Sprecherin Miriam Rose.
Was schließt, kommt selten zurück. Damit gehen nicht nur Arbeitsplätze verloren – sondern Orte sozialer Begegnung.
Was verlieren wir eigentlich?
7 % ODER STERBEN ?
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Gastronomie ist weit mehr als Essen:

  • Ausbildungsbetrieb für junge Menschen
  • Arbeitgeber für Wiedereinsteigerinnen
  • sozialer Treffpunkt
  • Tourismusfaktor
  • kultureller Identitätsstifter

Fällt sie weg, verliert eine Stadt mehr als bloß ein Restaurant.
Digitalisierung als Hoffnungsträger – und neue Belastung
Viele Betriebe versuchen gegenzusteuern:

  • KI-basierte Warenwirtschaft
  • Tagesaktuelle Menü-Kalkulation
  • Personaleinsatz-Software

Doch auch hier gilt:

  1. Digitalisierung kostet Investitionen
  2. Investitionen sind ohne finanzielle Luft kaum möglich
    So verschärft sich der Teufelskreis:
    Kein Geld = keine Innovation
    Keine Innovation = sinkende Rentabilität
    Sinkende Rentabilität = kein Geld
    Die politische Ampel des Vertrauens blinkt gelb
    Viele Gastronomen fühlen sich politisch:
  • überhört,
  • missverstanden,
    •hingehalten.

„Während Corona waren wir systemrelevant, jetzt sind wir wieder egal“, heißt es oft.
Das Vertrauen, dass Politik die wirtschaftliche Realität der Betriebe versteht, ist brüchig. Ein Gastronom formuliert es drastisch: „Wir bitten nicht um Hilfe – wir bitten darum, arbeiten zu dürfen.“

Die drei Zukunftsszenarien

1️. Senkung auf 7 % – die Atempause

  • Margen stabilisieren sich
  • Investitionen werden möglich
  • Ausbildungszahlen steigen langsam
    Aber: Ohne strukturelle Reformen bleibt es ein Zeitgewinn – keine Lösung.
    2️. Keine Senkung – der Kahlschlag
  • Weitere Geschäftsaufgaben
  • Marktbereinigung zugunsten von Ketten
  • weniger Vielfalt, steigende Preise
    3️. Kompromiss – zeitliche Befristung
  • Kurzfristige Entlastung
  • Langfristige Unsicherheit bleibt

Für viele Betriebe das schlechteste Szenario – keine echte Planungssicherheit.
„Was würden Sie heute entscheiden?“
ChefHeads hat über 50 Gastronomen und Hoteliers befragt. Das Stimmungsbild:
82 % sagen: 7 % sind überlebenswichtig
11 % sagen: wichtig, aber nicht entscheidend
7 % sagen: strukturelle Probleme wiegen schwerer
Typische Aussagen:

  • „Ohne Entlastung sperre ich 2026 zu.“
  • „Ich brauche Planungssicherheit – keine Versprechen.“
  • „Es geht nicht ums billige Essen. Es geht ums Überleben.“
    CHEFHEADS-MAGAZIN
    7 % ODER STERBEN ?
    Fazit: 7 % – Es geht um Respekt
    Die Steuerfrage ist längst keine rein fiskalische Debatte mehr.
    Sie ist ein Gradmesser dafür, wie viel Wert unsere Gesellschaft der Gastronomie beimisst.
    Geht es nur um Essen? Oder um Lebensqualität, Kultur, Arbeitsplätze und Stadtleben?
    Marco Lenz räumt sein Büro auf, schließt die Kasse ab. Heute war ein guter Abend – doch ganz zufrieden ist er nicht.
    „Ich liebe diesen Job. Aber ich habe Angst, dass Leidenschaft irgendwann nicht mehr reicht.“
    Dann lacht er kurz.
    „Und wissen Sie was? Wenn Politiker mal wirklich sehen würden, was hier jeden Abend passiert – dann bräuchten wir diese Diskussion vielleicht gar nicht.“
    Denn dann wäre klar:
    7 % sind keine Subvention — sie sind ein Bekenntnis.
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